Kapitel 1
Vorwort

Auf die Frage, welche Wissenschaft als der Inbegriff der Präzision gelten kann, werden sicher viele ohne zu zögern die Mathematik nennen. Viele Wissenschaften bedienen sich der Mathematik, wenn es darum geht, Sachverhalte präzise niederzuschreiben. Am weitesten geht man dabei sicherlich in der Physik: die Naturgesetze werden als mathematische Formeln niedergeschrieben, so dass sich Vorhersagen machen lassen, die man im Experiment überprüfen kann. So sind beispielsweise in der Quantenelektrodynamik Voraussagen mit sehr hoher Genauigkeit gelungen (man denke z.B. an das magnetische Moment des Elektrons).

Woran liegt es, dass man Mathematik und präzise Beschreibung so stark miteinander identifizieren kann? Nun, die Mathematik ist eben gerade die Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung von Strukturen und Zusammenhängen befasst. Sie versucht, formale Sprachen und Begriffe zu entwickeln, mit deren Hilfe sich solche Strukturen präzise darstellen und analysieren lassen.

Nehmen wir ein grundlegendes Beispiel: das Zählen von Objekten. Im Laufe der Jahrhunderte ist es uns Menschen gelungen, ein übersichtliches formales System zu entwickeln, mit dem wir den Vorgang des Zählens beschreiben können. Dazu wurde der abstrakte Begriff der (natürlichen) Zahl erfunden, und es wurde ein System entwickelt, mit dessen Hilfe man Zahlen auf Papier aufschreiben und mit ihnen rechnen kann.

Aber die Mathematik ist keineswegs auf solche Strukturen beschränkt. Sie ist in der Lage, auch vollkommen andere Dinge zu beschreiben, beispielsweise den Zusammenhang zwischen Raum und Zeit in der Relativitätstheorie oder die Symmetrieeigenschaften von Kristallen.

Mathematische Beschreibungen können sehr leistungsfähig sein. So liefert das mathematische System der natürlichen Zahlen immer nur wahre Aussagen: 1 + 1 = 2 oder 10 − 3 = 7, aber auch kompliziertere Dinge wie "es gibt unendlich viele Primzahlen". Eine solche Aussage ("es gibt unendlich viele Primzahlen") kann man tatsächlich mathematisch beweisen, obwohl man nie alle Primzahlen einzeln aufschreiben kann.

Aber wie genau schafft es die Mathematik, so leistungsfähig zu sein? Was genau tut man, wenn man beweist, dass es unendlich viele Primzahlen gibt? Kann man alle denkbaren Aussagen über natürliche Zahlen beweisen oder widerlegen?

Es erscheint erstrebenswert, die gesamte Mathematik auf eine unverwüstliche Grundlage zu stellen, von der ausgehend man beispielsweise alle Aussagen über natürliche Zahlen beweisen oder widerlegen könnte. Genau dies war der Traum, den um das Jahr 1900 viele Mathematiker hatten, unter ihnen auch der berühmte David Hilbert, der diesen Traum im Jahr 1900 in einem berühmten Vortrag in Paris besonders eindrucksvoll formulierte.

David Hilbert
David Hilbert (1862 - 1943)
Quelle: Wikimedia File:David Hilbert 1886.jpg, dort gemeinfrei

Wie also lässt sich die Mathematik auf solide Füße stellen? Hilbert sagte es in seinem Vortrag so:

"Wenn es sich darum handelt, die Grundlagen einer Wissenschaft zu untersuchen, so hat man ein System von Axiomen aufzustellen, welche eine genaue und vollständige Beschreibung derjenigen Beziehungen enthalten, die zwischen den elementaren Begriffen jener Wissenschaft stattfinden. Die aufgestellten Axiome sind zugleich die Definitionen jener elementaren Begriffe und jede Aussage innerhalb des Bereiches der Wissenschaft, deren Grundlagen wir prüfen, gilt uns nur dann als richtig, falls sie sich mittelst einer endlichen Anzahl logischer Schlüsse aus den aufgestellten Axiomen ableiten lässt.
[...]
Vor Allem aber möchte ich unter den zahlreichen Fragen, welche hinsichtlich der Axiome gestellt werden können, dies als das wichtigste Problem bezeichnen, zu beweisen, dass dieselben untereinander widerspruchslos sind, d.h. dass man auf Grund derselben mittelst einer endlichen Anzahl von logischen Schlüssen niemals zu Resultaten gelangen kann, die miteinander in Widerspruch stehen."

Man benötigt also eine Reihe von Begriffen (z.B. "natürliche Zahl") und eine Reihe von Grundaussagen (Axiome) über diese Begriffe (z.B. "jede natürliche Zahl hat einen Nachfolger", so ist 5 der Nachfolger von 4), deren Richtigkeit wir ohne weiteren Beweis voraussetzen. Ferner benötigt man die Möglichkeit, logische Schlussfolgerungen zu ziehen, d.h. auch die Grundregeln (Axiome) der Logik müssen hinzugenommen werden. Dieses Gesamtgebilde aus Begriffen, Axiomen und Regeln bezeichnet man auch als formales System (wir werden diesen Begriff später genauer definieren).

Auf diesem System aufbauend, erwarten wir, dass sich jede weitere Aussage über die verwendeten Begriffe (z.B. natürliche Zahlen) mit einer endlichen Zahl von Schritten beweisen oder aber widerlegen lässt. Dies nennt man Vollständigkeit der Axiome . Es mag zwar sein, dass dieser Beweis bzw. die widerlegung schwierig zu finden ist, aber es solllte prinzipiell machbar sein.

Außerdem darf es niemals passieren, dass sich eine Aussage (z.B. "es gibt unendlich viele Primzahlen") und ihr Gegenteil ("es gibt nur endlich viele Primzahlen") beide aus den Axiomen herleiten lassen. Man sagt, die Axiome müssen widerspruchsfrei bzw. konsistent sein. Und Hilbert fordert: es muss möglich sein, auch diese Widerspruchsfreiheit in endlich vielen Schritten logisch zu beweisen.

Hilbert geht weiter auf die Axiome ein, die dem Rechnen mit (reellen) Zahlen (also der sogenannten Arithmetik) allgemein zugrundeliegen, und sagt:

"Die Axiome der Arithmetik sind im Wesentlichen nichts anderes als die bekannten Rechnungsgesetze mit Hinzunahme des Axiomes der Stetigkeit. Ich habe sie kürzlich zusammengestellt (Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 8, 1900, S. 180) und dabei das Axiom der Stetigkeit durch zwei einfachere Axiome ersetzt, nämlich das bekannte Archimedische Axiom und ein neues Axiom des Inhaltes, dass die Zahlen ein System von Dingen bilden, welches bei Aufrechterhaltung der sämmtlichen übrigen Axiome keiner Erweiterung mehr fähig ist. (Axiom der Vollständigkeit). Ich bin nun überzeugt, dass es gelingen muss, einen direkten Beweis für die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome zu finden, wenn man die bekannten Schlussmethoden in der Theorie der Irrationalzahlen im Hinblick auf das bezeichnete Ziel genau durcharbeitet und in geeigneter Weise modifiziert."

Das ist bemerkenswert: Hilbert fordert in einem Axiom, dass die Axiome über das Rechnen mit rellen Zahlen nicht konsistent erweitert werden können. Die Arithmetik würde dann vollständig durch die aufgestellten Axiome beschrieben, und es wäre keine Erweiterung mehr möglich. Das wäre dann eine wirklich unerschütterliche Grundlage, die keine Fragen mehr offen lässt.

Es wurde in der Folge versucht, Hilberts Vision umzusetzen. So ging der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (zusammen mit dem Mathematiker Alfred North Whitehead) daran, eine logische Begründung der Mathematik aufzubauen. Den Abschluss seiner Forschungen bildeten die drei Bände der Principia Mathematica, die zwischen 1910 und 1913 erschienen

Rudolf Clausius
Bertrand Russell (1872 - 1970) im Jahr 1907
Quelle: Wikimedia File:Russell1907-2.jpg, dort public domain

Bleibt die Frage, ob sich Hilberts Vision erreichen lässt. Kaum jemand hatte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts irgendeinen Zweifel daran. Zu erfolgreich war die Mathematik, und zu erfolgreich war die Methode des mathematischen Beweises. Und wenn man ehrlich ist: als Student der Mathematik oder Physik (dazu habe ich auch einmal gehört) ist das genau der Eindruck, den man durch die verschiedenen Vorlesungen und Übungsaufgaben erhält: eine Aufgabe mag noch so knifflig sein; man ist überzeugt, dass sie im Prinzip lösbar ist, und dass man oft nur nicht clever genug ist, die richtige Lösung, den richtigen Beweis, zu finden.

Als ich so in der Mitte meines Physikstudiums angekommen war, fiel mir ein Buch in die Hände, das mich seitdem immer wieder beschäftigt hat, und das bei vielen mathematisch geprägten Wissenschaftlern mittlerweile fast eine Art Kultstatus genießt, Das Buch wurde im Jahr 1979 von dem Physiker Douglas R. Hofstadter geschrieben und trägt den Titel Gödel, Escher, Bach. Ein Endloses Geflochtenes Band. In diesem Buch beschreibt Hofstadter in allgemeinverständlicher Form, was aus Hilberts Traum in den letzten hundert Jahren geworden ist. Hat er sich erfüllt? Konnte seine Vision umgesetzt werden, die gesamte Mathematik durch ein endliches Axiomensystem logisch zu begründen?

Die Antwort, die ich dort fand, war verblüffend: Genau das Gegenteil ist gelungen! Es konnte bewiesen werden, dass Hilberts Vision prinzipiell undurchführbar ist! Der Mann, dem dies im Jahr 1931 - also 31 Jahre nach Hilberts berühmten Vortrag - gelang, war der österreichische Mathematiker Kurt Gödel.

Kurt Gödel
Kurt Gödel (1906 - 1978) als Student der Universität Wien
Quelle: Wikimedia File:1925 kurt gödel.png, dort public domain

Im Alter von 25 Jahren bewies Gödel den folgenden Satz:


Gödelscher Unvollständigkeitssatz:

Wir betrachten ein formales Axiomensystem, das die elementare Zahlentheorie umfasst (das also die natürlichen Zahlen 1, 2, 3 usw. sowie deren Addition und Multiplikation beschreibt). Weiter setzen wir voraus, dass das System widerspruchsfrei ist, d.h. es lassen sich nicht gleichzeitig Aussagen und ihr Gegenteil in dem System herleiten. Dann folgt daraus, dass das System unvollständig ist, d.h. man kann mit den Begriffen des Systems Aussagen über die natürlichen Zahlen formulieren, die sich innerhalb des Systems weder beweisen noch widerlegen lassen.


Dieser Satz stellt sicher eine der größten mathematischen Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts dar.

Man kann sich vorstellen, dass diese Entdeckung zu einer Revolution im Weltbild der Mathematik geführt hat. Hilberts Traum war gescheitert. Viele Mathematiker kamen sich vor, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Konnte man sich selbst in der elementaren Mathematik nicht auf eine feste Grundlage verlassen?

Es ist nicht ganz einfach, sich über die Konsequenzen des Gödelschen Satzes klar zu werden. Ist dieser Satz wirklich eine Katastrophe für die Mathematik?

Die Erfolge der Mathematik seit 1931 zeigen, dass Gödels Satz keineswegs eine Katastrophe gewesen sein kann. Die Einstellung unter den Mathematikern zu Gödels Satz hat sich daher auch mit der Zeit geändert: Gödels Satz wird weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als eine Bereicherung angesehen. Erschien das Glas zuerst halbleer, so erscheint es jetzt als halbvoll mit der Option, jederzeit dem mathematischen Getränk weitere Zutaten hinzufügen zu können, denn unvollständige Axiomensysteme lassen sich bei Bedarf jederzeit geeignet erweitern und somit den Bedürfnissen anpassen. Das wäre nicht immer möglich gewesen, wenn sich Hilberts Traum erfüllt hätte. Wir werden noch auf entsprechende Beispiele eingehen.

Man kann sich vorstellen, dass es für Gödel sicherlich nicht einfach war, entgegen der allgemeinen Erwartungshaltung ein solches Ergebnis überhaupt für möglich zu halten und es dann sogar noch zu beweisen. Gödel schwamm gleichsam mit aller Kraft gegen den Strom. Das passt gut zu dem Eindruck, den seine Mitmenschen von ihm hatten: Gödel war ein Exzentriker, der in seinen späten Jahren sogar zunehmend unter psychischen Problemen leiden musste. Interessanterweise verstand sich Gödel im Alter sehr gut mit Albert Einstein, dem ebenfalls Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts große Entdeckungen in der theoretischen Physik gelangen (insbesondere die Relativitätstheorie, die unsere Vorstellung von Raum und Zeit revolutioniert hat). Einstein konnte (nach eigener Aussage) stur wie ein Maulesel sein – eben stur genug, um Entdeckungen zu machen, die dem herrschenden Weltbild nicht entsprachen.

Gödels Original-Beweis seines Unvollständigkeitssatzes ist zwar geradlinig, aber nicht ganz einfach zu verstehen. G.J.Chaitin, ein bekannter Mathematiker, beschreibt es so: "Gödels Beweis von 1931 ist genial, aber ein ziemlicher Gewaltmarsch. Ich muss zugeben, dass ich beim Versuch, ihn zu verstehen, in zwar lesen und Schritt für Schritt nachvollziehen kann, aber irgendwie nie das Gefühl hatte, ihn wirklich zu begreifen." Gödels Beweis ist deshalb so schwierig zu verstehen, weil Gödel gezwungen war, eine Art mathematische Programmiersprache zu entwickeln, um seinen Beweis führen zu können. Im Buch von Douglas R. Hofstadter (Gödel, Escher, Bach, ..., siehe oben) kann man die Grundideen des Beweises nachlesen.

Ich werde in diesem Buch nur eine Beweis-Skizze darstellen, nicht den vollen Beweis, sodass auf die Einführung einer mathematischen Programmiersprache verzichten kann.

Im Jahr 1936 gelang es Alan Turing, einen völlig anderen Weg einzuschlagen und damit einen anderen Zugang zu Gödels Satz zu öffnen, der die Ursache für diesen Satz besser sichtbar macht. Ich möchte in diesem Buch besonders auf diesen Weg näher eingehen.

In einer Vorlesung im Jahr 1935 kam Alan Turing mit Hilberts Vision näher in Berührung, und er beschäftigte sich mit der Frage: "Gibt es – wenigstens im Prinzip – eine definierte Methode, mit deren Hilfe sich alle mathematischen Fragestellungen entscheiden (d.h. beweisen oder widerlegen) lassen?" Man nennt diese Frage auch das Entscheidungsproblem.

Um diese Frage zu klären, definierte Turing genauer, was mit "definierte Methode" gemeint sein soll. Hilbert hatte noch etwas wage davon gesprochen, dass sich ein Ergebnis mit einer "endlichen Anzahl logischer Schlüsse aus den aufgestellten Axiomen ableiten" lassen müsse. Turing präzisierte diese Aussage, indem er forderte, dass es eine rein mechanische Methode geben müsse, um das Ergebnis zu erhalten. Heute würde man sagen, Turing forderte die Existenz eines entsprechenden Computerprogramms.

Da es jedoch 1935 noch keine ernstzunehmenden Computer gab, erfand Turing statt dessen eine primitive (hypothetische) Maschine. Diese Maschine konnte auf einem endlosen, mit Zeichen linear beschriebenen Band (heute würde man RAM oder Speicher sagen) mit Hilfe eines Schreib-Lesekopfes in einem Verarbeitungsschritt das Zeichen unter dem Kopf lesen und abhängig von dem gelesenen Zeichen reagieren. Wie die Maschine dabei auf das Zeichen reagiert, hängt vom Zustand ab, in der sich die Maschine gerade befindet. Statt Zustand würde man heute sagen: in welcher Programmzeile sich der Computer gerade befindet. Die Zahl der möglichen Zustände ist dabei endlich und vorgegeben (d.h. das "Programm" der Maschine liegt fest). Jeder Zustand hat eine Nummer.

So ein Zustand würde der Maschine beispielsweise die folgende Anweisung geben:

Die Maschine kann allgemein das gelesene Zeichen durch ein anderes ersetzen, einen Schritt auf dem Band nach links oder rechts gehen sowie den Zustand (die Programmzeile) wechseln. Außerdem gibt es noch den Befehl, anzuhalten.

Man nennt diese Maschine heute Turingmaschine. Sie besitzt keine praktische, sondern theoretische Bedeutung, denn man kann zeigen, dass alles, was ein heutigen Digitalcomputer tun kann, eine Turingmaschine ebenfalls zustande bringt.

Im Jahr 1936 veröffentlichte Turing seine berühmte Arbeit On Computable Numbers With an Application to the Entscheidungsproblem (Über berechenbare Zahlen mit einer Anwendung auf das Entscheidungsproblem). In dieser Arbeit machte er klar, was er unter einer rein mechanischen Methode verstand: etwas, dass man mit Hilfe einer Turingmaschine ausführen konnte. Er zeigte, wo die prinzipiellen Grenzen solcher Methoden liegen, und damit zeigte er auch, warum Hilberts Vision nicht umsetzbar ist.

Die Erfindung der Turingmaschine war nicht die einzige Meisterleistung Turings. So gelang es ihm, im zweiten Weltkrieg den Code der deutschen Verschlüsselungsmaschine "Enigma" zu knacken. Umso tragischer ist es, dass Turing in einer Zeit lebte, in der man seine Homosexualität nicht tolerierte. Im Jahre 1953 wurde er deswegen verhaftet und kam nur frei, nachdem er sich mit einer Hormonbehandlung einverstanden erklärte. Am 7ten Juni 1954 schließlich brachte er sich um, indem er einen mit Zyankali vergifteten Apfel aß.

Wie Turing zeigte, gibt es Querverbindungen zwischen formalen Systemen in der Mathematik und dem, was Computer leisten können. Mathematische Logik, Zahlentheorie und die Grundlagen der Informatik sind eng miteinander verknüpft und befruchten sich gegenseitig. Daher lohnt es sich, eine so grundlegende Entdeckung wie den Gödelschen Satz auch von anderer Seite zu beleuchten. Viele Dinge werden auf einmal verständlicher.

Immer wieder tauchen neue Querverbindungen auf. So hat Gödels Satz (oder genauer: Turings Halteproblem) auch eine enge Verbindung mit dem Problem der diophantischen Gleichungen, das Hilbert ebenfalls in seinem Vortrag aus dem Jahr 1900 erwähnte. Dieser Zusammenhang wurde im Jahr 1970 von Yuri Matijasevic entdeckt.

Diophantische Gleichungen sind Gleichungen der Form \( P(x,y,...) = b \), wobei \( P \) ein Polynom mit ganzzahligen Koeffizienten ist, und \( b \) eine ganzzahlige Konstante. Gesucht sind ganzzahlige Variablen \(x, y, ... \) , so dass die Gleichung erfüllt ist (Anm: mit "ganzzahlig" sind Zahlen wie ... -3, -2, -1, 0, 1, 2, 3, 4, ... gemeint).

Ein Beispiel: die Gleichung \begin{equation} x^n + y^n = z^n \end{equation} ist von dieser Form, wobei \( n \) eine vorgegebene natürliche Zahl (also 1, 2, 3, ...) ist und \(x, y\) und \( z \) gesuchte ganze Zahlen sind (man bringe den Term der rechten Seite auf die Linke Seite, um die obige Form zu erhalten; dabei ist \(b = 0 \) ). Ist diese Gleichung lösbar (außer durch Nullen)?

Die Antwort wird vom Wert für \( n \) abhängen. Für \( n = 2 \) gibt es beispielsweise eine einfache Lösung, denn es ist \begin{equation} 3^2 + 4^2 = 5^2 \end{equation}

Doch wie steht es bei anderen Werten von \( n \), beispielsweise \( n = 3 \) ? Besitzt die Gleichung auch dann ganzzahlige Lösungen? Diese Frage erwies sich als sehr hartnäckig und konnte erst im Jahr 1993 (!) durch Wiles beantwortet werden. Er bewies, dass es für ganzzahlige Werte von \( n \) größer als 2 keine ganzzahligen Lösungen der Gleichung gibt (Fermat hatte bereits etwa im Jahr 1630 behauptet, den Beweis gefunden zu haben; der Beweis ist jedoch nicht überliefert, und es erscheint aus heutiger Sicht fraglich, ob er überhaupt dazu in der Lage war, denn der Beweis ist sehr aufwendig und verwendet moderne Methoden der Mathematik).

Doch wie sieht es bei anderen, komplizierteren Polynomen aus? Hat beispielsweise die Gleichung \begin{equation} 5 x^{17} + 4 y^{685} - 9 z^{33} = 75 \end{equation} ganzzahlige Lösungen?

Es zeigt sich, dass die Frage nach der Lösbarkeit solcher Gleichungen in den meisten Fällen nicht entschieden werden kann: man findet keine Lösung, kann aber nicht zeigen, dass es keine Lösung gibt. Wir kommen im Verlauf dieses Buches noch darauf zurück.

Gödel und Turing hatten gezeigt, dass nicht alle Fragestellungen, die in der Mathematik, in der Informatik oder allgemein in formalen Systemen gestellt werden können, sich innerhalb des Systems entscheiden lassen. Es gibt Probleme in der Mathematik, die aufgrund der vorliegenden Annahmen (Axiome) nicht bewiesen oder widerlegt werden können. Diese Probleme müssen keineswegs immer exotisch sein, wie die diophantischen Gleichungen gezeigt haben.

Auf die Spitze getrieben hat das Ganze der Mathematiker Gregory J. Chaitin im Jahr 1975. Er definierte eine reelle Zahl (d.h. es gibt unendlich viele Dezimalstellen), bei der es unmöglich ist, mehr als eine endliche Anzahl von Stellen zu berechnen. Jede einzelne Stelle der Zahl ist eine Information, die komplett unabhängig von der Information über die anderen Stellen ist, d.h die Zahl kann nie durch ein endliches Axiomensystem erfasst werden. Die in der Zahl enthaltene Information ist nicht reduzibel, kann also nicht irgendwie zusammengefasst werden – genau wie bei einer Zahl, bei der man jede einzelne Stelle würfelt. In diesem Sinn kann man sogar davon sprechen, dass der Zufall selbst in der reinen Mathematik vorkommt. Die Mathematik enthält einfach nicht die Information, die zur Berechnung der Zahl notwendig wäre.

Hier entsteht ein interessanter Zusammenhang zu einer der großen Entdeckungen der Physik aus dem ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts: der Quantenmechanik. Man entdeckte, dass es Prozesse in der Natur gibt, die rein zufällig ohne jede innere Ursache ablaufen. Beispielsweise ist es unmöglich, die Position eines Elektrons in der Hülle eines Atoms vorherzusagen. Wenn man nachschaut, wird man es irgendwo dort finden. Der Grund für diese Zufälligkeit liegt aber nicht in unserem Unvermögen, sondern darin, dass die Information über den Aufenthaltsort des Elektrons in der Natur nicht existiert. Das Elektron weiß selber nicht, wo es sich befindet, und beim Nachschauen findet man es zufällig mal hier, mal dort.

Auch in der Quantentheorie ist also die Ursache für Zufall das Fehlen von Information. Die Natur verfügt selbst nicht über die Information – ganz analog zu Chaitins Zahl, bei der die Mathematik ebenfalls nicht die notwendige Information besitzt, die zur Berechnung der Zahl notwendig wäre. Es scheint mir, als sei man hier auf ein tiefes Prinzip gestoßen, das sowohl der Natur als auch der Mathematik innewohnt.

Vielleicht ist es sogar so, dass man Mathematik in Zukunft anders betreiben wird als noch vor wenigen Jahren. Wenn sich eine mathematische Hypothese als fruchtbar erwiesen hat und trotz intensiver Suche keine Gegenbeispiele bekannt sind, wird man sie vielleicht in das mathematische Gebäude einbauen, auch wenn ein Beweis der Hypothese nicht gelingt. Es könnte ja schließlich sein, dass die Hypothese eine zusätzliche nützliche Information beinhaltet, die im bisherigen mathematischen Gebäude noch nicht vorhanden ist. Ein Beweis wäre in diesem Fall unmöglich. Einem Physiker ist diese Arbeitsweise durchaus geläufig – ein Mathematiker fühlt sich dabei eher unwohl. So hantiert man in der theoretischen Physik oft mit mathematischen Objekten und Strukturen, deren mathematisches Fundament keineswegs geklärt ist – man denke beispielsweise an Pfadintegrale oder an divergierende Ausdrücke in der Quantenfeldtheorie. Dennoch haben sich diese Objekte als sehr nützlich erwiesen!

Ich hoffe, ich konnte dem Leser mit diesen Vorbemerkungen etwas Appetit auf die folgenden Kapitel machen. Mich hat das Thema schon lange fasziniert, und ich schreibe dieses Buch nicht zuletzt deshalb, um selbst ein besseres Verständnis für das zu gewinnen, was Gödels Satz und Turings Ergebnisse für das bedeuten, was wir für wahr halten. Dabei bin ich auf dem Gebiet kein eigentlicher Experte. Ich bin kein Zahlentheoretiker, Logiker oder theoretischer Informatiker, sondern ich bin theoretischer Physiker. Daher mag es vorkommen, dass sich hier und dort Fehler oder Ungenauigkeiten einschleichen, für die ich mich hier schon einmal entschuldigen möchte. Ich hoffe dennoch, dass es mir gelingt, dem Leser etwas von der Begeisterung zu vermitteln, die ich selbst bei diesem Thema empfinde.



Literatur:



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© Jörg Resag, www.joerg-resag.de
last modified on 19 February 2023