Kapitel 3
Atomkerne und spezielle Relativitätstheorie

4  Neue Rätsel

Zusammenfassung des Buchkapitels:

Einsteins spezielle Relativitätstheorie wirft neue Fragen auf:

Um diese Fragen zu lösen, müssen wir in den nächsten Kapiteln versuchen, einen tieferer Einblick in die Struktur der Materie zu gewinnen.



Zusatzinformationen:

a) die elektrische Feldenergie des Elektrons als klassische geladenen Kugel
b) Klassischer Elektronenradius und Renormierung



a) die elektrische Feldenergie des Elektrons als klassische geladenen Kugel

Wie berechnet man die Energie, die im elektrischen Feld des Elektrons steckt? Das geht so (beliebte Übungsaufgabe im Physikstudium):

Die Energiedichte \(u\) eines elektrischen Feldes vom Betrag \(E\) an einem Ort \(\boldsymbol{x}\) beträgt \[ u = \frac{\epsilon_{0}}{2} \, E^{2} = \frac{1}{8 \pi k} \, E^{2} \] mit der elektrischen Feldkonstanten \(\epsilon_{0}\) und \[ k = \frac{1}{4 \pi \epsilon_{0}} \] (siehe Kapitel 1.4). Ein kleines (infinitesimales) Volumen \(dV\) am Ort \(\boldsymbol{x}\) enthält also die Energie \[ u \, dV \] Wir stellen uns nun das Elektron als kleine, gleichmäßig elektrisch geladene Kugel mit Radius \(R\) und Gesamtladung \(e\) vor. Das elektrische Feld im Außenbereich der Kugel ist identisch mit dem Feld einer Punktladung, die dieselbe Ladungsmenge wir die Kugel aufweist: \[ E = k \frac{e}{r^{2}} \] Dabei ist \(e\) die Elektronenladung und \(r\) der Abstand zum Mittelpunkt der Kugel. Aus der obigen Formel ergibt sich die bekannte Kraft auf eine Probeladung \(q\) im Abstand \(r\) durch \[ F = q E = k \frac{q e}{r^{2}} \] (siehe Kapitel 1.4).

Das können wir nun in die Energiedichte \(u\) oben einsetzen. Um die Gesamtenergie \(U\) des Feldes im Außenbereich der Kugel zu berechnen, müssen wir über diesen Außenbereich \(V_R\) (d.h. \(r \ge R\)) integrieren. Als Volumenelement nehmen wir dazu eine Kugelschale der infinitesimalen Dicke \(dr\) mit Radius \(r\), die dann das Volumen \( dV = 4 \pi r^{2} \, dr \) besitzt: \[ U = \int_{V_R} \frac{1}{8 \pi k} \, E^{2} \, dV = \] \[ = \int_{R}^{\infty} \frac{1}{8 \pi k} \, \left( k \frac{e}{r^{2}} \right)^{2} \, 4 \pi r^{2} \, dr = \] \[ = \int_{R}^{\infty} \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{r^{2}} \, dr = \] \[ = - \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{r} \, \bigg|_{R}^{\infty} = \] \[ = \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{R} \] Am einfachsten erweitert man hier mit \( \hbar c \), denn \[ \alpha := \frac{k e^{2}}{\hbar c} \approx \frac{1}{137} \] ist die sogenannte Kopplungskonstante der elektromagnetischen Wechselwirkung (also die Elementarladung in natürlichen Einheiten, siehe Kapitel 5.2), und \[ \hbar c \approx 197,3 \, \mathrm{MeV} \, \mathrm{fm} \] (siehe Kapitel 2.4). \[ U = \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{R} = \] \[ = \frac{1}{2} \frac{k e^{2}}{\hbar c} \frac{\hbar c}{R} = \] \[ = \frac{1}{2} \, \frac{1}{137} \, \frac{197,3 \, \mathrm{MeV} \, \mathrm{fm}}{R} = \] \[ = 0,72 \, \mathrm{MeV} \, \frac{\mathrm{fm}}{R} \] Je kleiner die geladene Kugel ist, umso größer ist also die Energie des elektrischen Feldes um sie herum (die Energie des elektrischen Feldes im Inneren der Kugel lassen wir hier weg). Wir wissen nun aus vielen Experimenten, dass das Elektron kleiner als 0,0001 Fermi sein muss. Die Energie des elektrischen Außenfeldes einer Kugel dieser Größe wäre \[ U = 0,72 \, \mathrm{MeV} \, \frac{1}{0,0001} = \] \[ = 7200 \, \mathrm{MeV} \] also grob gerundet mindestens etwa 7000 MeV. Da das elektrische Feld untrennbar mit dem Elektron verbunden ist, trägt seine Energie zur Gesamtmasse des Elektrons bei. Das Elektron müsste also mindestens 7000 MeV schwer sein, wenn man es sich klassisch als elektrisch geladene Kugel vorstellt, die kleiner als 0,0001 Fermi ist. Das passt nicht zur gemessenen Masse von etwa 0,5 MeV. Nahe am Elektron bricht die klassische Feldbeschreibung offenbar zusammen.

Umgekehrt: Wie groß müsste die Kugel sein, damit das umgebende elektrische Feld gerade die Elektronenmasse von 0,5 MeV ergibt? Wir setzen 0,5 MeV für \(U\) ein und lösen nach \(R\) auf: \[ 0,5 \, \mathrm{MeV} = 0,72 \, \mathrm{MeV} \, \frac{\mathrm{fm}}{R} \] ergibt \[ R = \frac{0,72}{0,5} \, \mathrm{fm} = 1,44 \, \mathrm{fm} \] Das entspricht ungefähr der Größe eines Protons oder Neutrons im Atomkern. Geht man also näher als einige Fermi an ein Elektron heran, so muss die Beschreibung der elektromagnetischen Wechselwirkung durch ein elektrisches Feld zusammenbrechen, da ab da die Feldenergie sonst größer als die Elektronenmasse wird.



b) Klassischer Elektronenradius und Renormierung

Wir hatten oben das Elektron als kleine, gleichmäßig elektrisch geladene Kugel mit Radius \(R\) und Gesamtladung \(e\) modelliert und die Energie \(U\) berechnet, die in seinem elektrischen Feld steckt. Ergebnis: \[ U = \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{R} \] Diese Energie trägt nach den klassischen Maxwellgleichungen zur Masse des Elektrons bei. Man kann sich sogar klassisch vorstellen, dass die gesamte Masse \(m\) des Elektrons alleine von seiner elektrischen Feldenergie stammt. Wir groß müsste dann der Kugelradius \(R\) sein?

Rechnen wir es aus: \[ U = \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{R} = m c^{2} \] Freistellen nach \(R\) ergibt \[ R = \frac{k}{2} \, \frac{e^{2}}{m c^2} \] Den Faktor 1/2 lässt man bei dieser groben Abschätzung meist weg und bezeichnet der Radius \( r_{e} = 2 R \) als klassischen Elektronenradius.

klassischer Elektronenradius:

\[ r_{e} = k \, \frac{e^{2}}{m c^2} \]

Wie wir sehen, taucht hier die Lichtgeschwindigkeit \(c\) auf, denn wir haben ja eine Feldenergie mit einer Masse in Beziehung gesetzt. Die Quantenmechanik und damit \(\hbar\) spielt aber keine Rolle, denn es handelt sich um eine rein klassische Überlegung.

Insgesamt hängt der klassische Elektronenradius von drei Parametern ab: Der elektrischen Kraftstärke proportional zu \(k e^{2}\), der Elektronenmasse \(m\) und der Lichtgeschwindigkeit \(c\). Diese drei Größen kann man über die obige Formel in naheliegender Weise zu einer Längeneinheit kombinieren. An dieser Formel lesen wir ab:

Um den Wert von \(r_{e}\) auszurechnen, bietet es sich an, analog zu oben das Planck'sche Wirkungsquantum \(\hbar = \frac{h}{2 \pi}\) als Hilfgröße ins Spiel zu bringen und die elektromagnetische Kopplungskonstante \[ \alpha := \frac{k e^{2}}{\hbar c} \approx \frac{1}{137} \] zu verwenden (siehe Buchkapitel 5.2 ): \[ r_{e} = k \, \frac{e^{2}}{m c^2} = \] \[ = k \, \frac{e^{2}}{\hbar c} \, \frac{\hbar}{m c} = \] \[ =: \alpha \, \bar{\lambda}_C \] also

\[ r_{e} = \alpha \, \bar{\lambda}_C \]

Dabei ist \[ \bar{\lambda}_C = \frac{\hbar}{m c} = \] \[ \approx 0,004 \, \mathrm{Angstroem} = \] \[ = 400 \, \mathrm{fm} \] die (reduzierte) Compton-Wellenlänge des Elektrons, die die relativistische Ortsunschärfe in der Quantenfeldtheorie angibt (siehe Kapitel 5.1). Sie ist die Längenskala, unterhalb der relativistische Effekte für die quantenmechanische Beschreibung des Elektrons wichtig werden. Der klassische Elektronenradius \(r_e\) ist also etwa 137 mal kleiner als diese Compton-Wellenlänge:

\[ r_{e} = 2,8 \, \mathrm{fm} \]

Wir wissen nun aus vielen Experimenten, dass das Elektron kleiner als 0,0001 Fermi sein muss (siehe oben), also viel kleiner als der klassische Elektronenradius, der sich aus unserem klassischen Kugelmodell ergibt. Spätestens unterhalb von \(r_{e} = 2,8\) fm   muss also etwas Neues geschehen, das die Masse des Elektrons auf ihren experimentellen Wert von etwa 0,5 MeV bringt. In der Quantenfeldtheorie wird dies durch den Prozess der Renormierung erreicht (siehe Kapitel 6.3). Man kann deshalb den klassischen Elektronenradius auch als die Längenskala interpretieren, unterhalb der Renormierung wichtig wird (und zwar bereits in der klassischen Elektrodynamik, aber auch in der Quantenelektrodynamik QED).



Literatur:



zurück zum Inhaltsverzeichnis

© Jörg Resag, www.joerg-resag.de
last modified on 17 January 2024